Herbert Lewin
Machtübernahme und Verfolgung
Herbert Lewin wurde 1917 in Osterode, damals Ostpreußen, geboren. Weil er aus einer jüdischen Familie kam, musste er vor der nationalsozialistischen Verfolgung fliehen - so gelang er über Jugoslawien nach Palästina ins heutige Israel. Sein Bruder und seine Eltern wanderten nach England aus. In Israel lernte Herbert Lewin seine Frau Trude kennen, die aus Wien kam. Gemeinsam zogen sie 1955, zehn Jahre nach Kriegsende, nach Österreich, wo Herbert Lewin bis zum Ende seines Lebens wohnte. Seinen besten Freund Hans Schaller hat Herbert Lewin nie vergessen.
Bis 1933 hatte ich in meiner Kindheit überhaupt keinen Antisemitismus erlebt. Es gab in Osterode keinen Juden, der belästigt wurde, dort war das unmöglich. Die jüdische Gemeinde hatte geglaubt, es könne ihnen nichts passieren, denn sie sind deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens. Das war eigentlich für viele der Untergang.
Mein Papa musste 1934 das Geschäft verpachten. Es ist niemand mehr hinein gekommen, weil zwei SA-Männer am Eingang standen um zu kontrollieren, wer zum Juden hinein- und herausgeht. Die zwei SA-Männer kamen nicht aus unserem Ort. Wer weiß, wo sie die her geschafft hatten. Die ganze SA waren fremde Leute. Mein Vater ist zur Naziparteileitung gegangen und hat gesagt, er möchte sein Geschäft verpachten. Ein Kellner aus Elbing hat das Geschäft übernommen. Der Kellner wollte aber nicht die Geschäftsbücher sehen, sondern den Kundenverkehr einen Tag beobachten, um dann zu entscheiden, welchen Pachtzins er meinem Vater zahlt. Es kam ja niemand mehr ins Geschäft! Das war ein großer Betrug! Nachdem der Kellner das Geschäft übernommen hatte, sind alle SA-Leute Tag und Nacht im Lokal gesessen.
Meine Eltern konnten die Wohnung nicht mehr bezahlen, und wir sind an den Stadtrand gezogen. Unser Glück war, dass wir den Bruder meines Vaters hatten, der uns weiter aus Brasilien monatlich Geld schickte.
Ich war ein Jahr arbeitslos. Sonntags bin ich mit dem Radl zu meinem besten Freund Hans gefahren, obwohl ich manchmal nicht wusste, ob er überhaupt zu Hause ist. Aber ich hab gewusst, unter der Matte ist immer der Wohnungsschlüssel. Ich bin dort hinein gegangen, hab mich zum Fenster gesetzt, sie hatten nur ein Fenster zum Hof hinaus. Beim Fenster ist der Radioapparat gestanden, da hab ich mir Radio Warschau eingestellt, denn da gab es Sonntagmittag immer ein schönes Konzert. Dort hab ich meine Seele baumeln lassen. Ich hab gewusst, es kann mir nichts passieren, weil rundherum Proletarier, lauter Kommunisten und Sozialdemokraten waren.
Dann hat unser Rabbiner mir eine Lehrstelle als Bäcker besorgt. Ich war glücklich, mein Freund Hans war Bäcker, und ich wollte deshalb auch Bäcker werden. Der Bäcker war Jude, aber in der Backstube arbeitete ein Nazi, der hat nur auf die Arisierung gewartet. Was ich gelernt hab, hab ich nur vom Zuschauen und vom eigenen Üben gelernt. Kostgeld haben meine Eltern zahlen müssen, die Schmutzwäsche habe ich per Post nach Hause schicken müssen, essen musste ich bei einer Bekannten. Mit einem jungen Mann, den ich kennen gelernt hatte, bin ich sonntags mit dem Rad auf die Dörfer zu den Bauern gefahren. Wir wussten, bei denen wird uns nichts passieren.
-
Antisemitismus
Antisemitismus ist eine weit verbreitete Bezeichnung für Judenfeindschaft. Allgemein werden damit sämtliche Formen von Hass, feindlichen Einstellungen, Äußerungen, Handlungen und Vorurteilen beschrieben, die sich gegen Jüdinnen und Juden und alle richten, die als jüdisch wahrgenommen werden. Der Begriff wurde erstmalig im 19. Jh. öffentlich verwendet und löste mit rassistischen Motiven den religiös begründeten Antijudaismus ab. Öffentliche antisemitische Hetze ist heute in Deutschland strafbar. Dazu gehört auch die Leugnung des Holocaust.
-
Osterode
Die Stadt Osterode in Ostpreußen heißt heute Ostróda und liegt im Norden Polens.
-
SA
Die SA, kurz für Sturmabteilung, wurde 1921 als paramilitärische Abteilung der NSDAP zur Bekämpfung des politischen Gegners gegründet. Nach Hitlers Machtübernahme war die SA als Hilfspolizei an der Errichtung der ersten Konzentrationslager beteiligt.
-
Naziparteileitung
Die Naziparteileitung ist die administrative Leitungsebene der NSDAP.
-
Kommunismus
Der Begriff "Kommunismus" geht auf das lateinische Wort “communis“ zurück, was “gemeinsam“ bedeutet. Der Kommunismus hat eine bestimmte Vorstellung davon, wie eine ideale menschliche Gesellschaft aussehen sollte: allen Menschen soll gemeinsam das gehören, was für den Lebensunterhalt notwendig ist.
Herbert Lewin
Rosinen meines Lebens
Mitte der 90er Jahre begann Herbert Lewin langsam sein Augenlicht zu verlieren. Im Alter von 90 Jahren war er fast blind, aber wie in seiner Jugend bereitet ihm es immer noch die größte Freude, Musik zu hören. Während er uns Fotos aus seinem Leben zeigt, die er selber kaum noch sehen kann, erzählt uns Herbert Lewin von seiner Kindheit in der ostpreußischen Stadt Osterode (die heute zu Polen gehört). Er berichtet von seinem besten Freund, der ihn nie im Stich ließ, obwohl er gezwungen war, in die Hitlerjugend einzutreten. Herbert Lewin nimmt uns dann mit auf seine abenteuerliche Reise, in deren Verlauf er illegal nach Palästina ausreiste, sich in Tel Aviv verliebte und dann nach dem Krieg schließlich nach Europa zurückkehrte.
Arbeitsaufträge
-
Skizziere die Auswirkungen, die sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 für die Lewins ergaben.
-
Für Herbert gab es trotz der widrigen Umstände Rückzugsorte. Beschreibe diese Orte und erläutere, welchen besonderen Stellenwert sie im Leben von Herbert hatten.
-
Herbert fühlte sich an den besagten Rückzugsorten relativ sicher. Nimm Stellung dazu und begründe deine Aussage mit der beschriebenen Umgebung beziehungsweise den beteiligten Personen.
-
Verfasse einen Brief (an die Eltern) / einen Tagebucheintrag, in welchem du einen Tag aus deiner Lehrzeit schilderst.