Kaleidoskop der jüdischen Erinnerungen

Herbert Lewin

Flucht über Jugoslawien nach Israel

Herbert Lewin wurde 1917 in Osterode, damals Ostpreußen, geboren. Weil er aus einer jüdischen Familie kam, musste er vor der nationalsozialistischen Verfolgung fliehen - so gelang er über Jugoslawien nach Palästina ins heutige Israel. Sein Bruder und seine Eltern wanderten nach England aus. In Israel lernte Herbert Lewin seine Frau Trude kennen, die aus Wien kam. Gemeinsam zogen sie 1955, zehn Jahre nach Kriegsende, nach Österreich, wo Herbert Lewin bis zum Ende seines Lebens wohnte. Seinen besten Freund Hans Schaller hat Herbert Lewin nie vergessen.

Herbert Lewin in Golenic auf Hachschara, 1938
Herbert Lewin mit den anderen Hechalutzim im Kibbutz Magdiel, 1939

Ich war auf Hachschara in Oberschlesien. Eines Tages ist die Mitteilung gekommen, unsere ganze Gruppe wird aufgelöst, und wir gehen nach Jugoslawien auf Hachschara.

Ich bin nach Hause gefahren, das war 1937. Mein Vater hat einen Reisepass für mich beantragt und nach acht Tagen war der Pass fertig. Der Polizeikommissar sagte zum Abschied: “Ich wünsch Ihrem Sohn viel, viel Glück und Erfolg in seinem Leben, und er soll etwas anderes kennen lernen als das, was wir jetzt hier haben.“

Kurz nachdem ich nach Jugoslawien gekommen bin, hat mein Bruder meinen Eltern eine Einreiseerlaubnis für England beschafft. Sie sind im Januar 1939 nach England emigriert. Unser Onkel aus Brasilien hat sich über die englische Firma um meine Eltern gekümmert und ihnen eine Wohnung besorgt. Aber 1942 ist der Onkel gestorben. Da ist dann der Kontakt mit Südamerika vollkommen abgebrochen. Meine Eltern sind beide noch während des Krieges in den 1940er Jahren gestorben. Mein Vater ist in Hull und die Mama ist in Nottingham begraben. Ich weiß aber nicht genau wo, auf welchen Friedhöfen.

Nach zwei Jahren in Jugoslawien war dann eine Möglichkeit, illegal nach Palästina zu kommen. Das abenteuerliche war, dass wir acht Tage in Jugoslawien untertauchen mussten. Wir hatten ein Einreisevisum für Ecuador. In Prag war ein jüdischer Konsul aus Ecuador und jugoslawische Jugendliche, die mit uns auf Hachschara waren, sind über die grüne Grenze mit unseren Pässen nach Prag zu diesem Konsul gegangen. Er hat Einreisevisa nach Ecuador hineingestempelt mit der Auflage, wenn wir aufs Schiff kommen, müssen diese Pässe vernichtet werden, damit er kein Risiko eingeht. Wir hatten auch noch für 500 jüdischen Chalutzim aus der Tschechoslowakei die Ausreise von Jugoslawien nach Ecuador organisiert. In Sušak ist jemand von der jüdischen Gemeinde gekommen und hat gesagt, die Tschechen sitzen an der Grenze fest. Die sind in versiegelten Eisenbahnwaggons, man weiß nicht, was die Deutschen vorhaben mit ihnen. Wir können in der Synagoge auf Strohsäcken schlafen und so lange bleiben, bis die Tschechen kommen. Wir haben über eine Woche in der Synagoge gehaust. Niemand durfte ans Fenster gehen, niemand durfte aufs Stiegenhaus (Treppenhaus) gehen. Die Gemeinde hat für uns gesorgt, für Literatur und sogar für Spiele. Endlich war es soweit! Wir hatten den Polizeikommissar von Suschak mit Geld bestochen und sind dann heimlich, mit Wissen des Kapitäns und der Matrosen, auf das griechische Schiff Galiläa und haben uns im Maschinenraum versteckt. Als die 500 Tschechen kamen, ist der Zug mit dem plombierten Waggon bis in den Hafen herein gekommen, bis zu dem Schiff. Wir hätten die 500 Tschechen sonst gar nicht einschleusen können.

Im Laderaum des Schiffes waren Stockbetten für uns - drei Stock hoch - aber sehr eng. Wenn man sich auf den Bauch gelegt hat, musste man auf dem Bauch liegen bleiben. Die Luft war schrecklich. Eine lebende Kuh fuhr als Reserveverpflegung mit. Sie wurde schon am dritten Tag geschlachtet. Ein Fleischhauer, einer von uns, hat die Kuh zerteilt und vor der Küche die Rinderhälften aufgehängt. Wir sollten nachts aufpassen, dass keiner etwas stiehlt. Auf einmal, mitten in der Nacht, kamen Matrosen mit einem großen Küchenmesser. Einer ging zu dem Fleisch und schnitt sich ein Stück ab. Dann kamen viele, aber wir hatten Angst vor denen. Sie luden uns dann zu den herrlichen Steaks ein.

Am siebenten Morgen waren wir in englischen Gewässern, da kam ein Funkspruch, dass wir noch einen Tag außerhalb kreuzen müssen. Wir durften erst bei Einbrechen der Dunkelheit an die Küste kommen, dort sollte ein rotes Licht gesendet werden, auf das wir dann zufahren sollten. Wir wurden in Gruppen zu je 25 Mann eingeteilt. Es gab sechs Rettungsboote, also 25 Mann Boot eins, 25 Mann Boot zwei und so weiter. Als es dunkel war, ruderten die Matrosen uns ans Ufer. Dort standen Leute von der Haganah bis zum Bauch im Wasser. Wir sind heraus gesprungen und sie haben uns ans Ufer gebracht. Wir waren glücklich. Die Kavallerie hat uns eskortiert, keiner durfte sprechen oder ein Zigarette anzünden. So kamen wir in einen Pardes, da gab es eine große Lagerhalle. Zuerst bekamen wir heißen Tee und Zigaretten. Wir haben uns ein bisschen ausgeruht und sind dann in einen Moschaw geführt worden. Es war mitten in der Nacht, da ist die ganze Bevölkerung des Moschaw auf dem Marktplatz gestanden, und jeder hat zwei oder drei von uns mit zu sich nach Hause genommen.

In der Früh gab es ein riesengroßes Frühstück mit Kaffee, Tee, Oliven, Käse und Wurst. Dann sind verdunkelte Autobusse mit zugezogenen Scheiben gekommen, die uns nach Ramat Gan bei Tel Aviv zu mehreren Familien brachten. Dort sind wir fantastisch aufgenommen worden; ich war bei einem polnischen Ehepaar. Er war Beamter im Sekretariat in der Knesset in Tel Aviv. Wir bekamen gefälschte Identitätskarten, wegen der englischen Militärkontrollen. Dann ging es weiter.

Vergleiche diese mit einer anderen Geschichte

Herbert Lewin


Rosinen meines Lebens

Mitte der 90er Jahre begann Herbert Lewin langsam sein Augenlicht zu verlieren. Im Alter von 90 Jahren war er fast blind, aber wie in seiner Jugend bereitet ihm es immer noch die größte Freude, Musik zu hören. Während er uns Fotos aus seinem Leben zeigt, die er selber kaum noch sehen kann, erzählt uns Herbert Lewin von seiner Kindheit in der ostpreußischen Stadt Osterode (die heute zu Polen gehört). Er berichtet von seinem besten Freund, der ihn nie im Stich ließ, obwohl er gezwungen war, in die Hitlerjugend einzutreten. Herbert Lewin nimmt uns dann mit auf seine abenteuerliche Reise, in deren Verlauf er illegal nach Palästina ausreiste, sich in Tel Aviv verliebte und dann nach dem Krieg schließlich nach Europa zurückkehrte.

Arbeitsaufträge

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