Kaleidoskop der jüdischen Erinnerungen

Hillel Kempler

Die Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933

Hillel Kempler wurde 1925 in Berlin geboren. Seine Familie stammte ursprünglich aus der Ukraine und zog nach Berlin, weil sie sich dort mehr Zukunfstchancen ausrechnete. Hillel Kemplers Eltern waren religiös und betrieben eine beliebte koschere Konditorei im jüdisch geprägten Scheunenviertel in Berlin-Mitte. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten konnten Hillel Kempler und seine Familie nach Palästina zu flüchten, wo sie sich in Tel Aviv niederließen. Hillel Kempler arbeitete nach seiner Zeit im Militär als Berufsschullehrer.

Liebe und David Kempler mit ihren Kindern Fanny, Gusti, Miriam, Isidor und Hillel in Berlin, 1927

Nachdem Hitler die Wahlen im Januar 1933 gewonnen hatte, sind die Nazis gleich durch die Straßen gezogen und haben Fensterscheiben zerschlagen. Sie trugen braune Uniformen und Stiefel. Ich sehe das noch genau vor mir.

Unter uns wohnte die Familie Süßapfel. Eines nachts haben wir aus der Wohnung der Familie Süßapfel schrecklichen Lärm gehört. Wir sind alle davon aufgewacht. Mein Vater war zu dieser Zeit noch in der Konditorei und bereitete alles für den nächsten Tag vor. Herta, unser Hausmädchen, hat schnell unsere Wohnungstür verschlossen. Wir waren sehr aufgeregt. Herta hat gesagt, dass man die Familie unten schlägt und wir nicht hinaus gehen dürfen. Isi, mein Bruder, hat sich an unsere Wohnungstür gestellt und wollte genau hören, was da unten los ist, aber Herta hat ihn immer weggejagt. Es waren schreckliche Geräusche, und dann war es plötzlich still. Eine längere Zeit haben wir gewartet, dann hat Herta die Tür aufgeschlossen und ist runter gegangen. Als sie zurück kam hat sie uns erzählt, dass die Nazis in der Wohnung der Familie Süßapfel waren und den Mann und die zwei Söhne geschlagen haben: sie haben sie an die Wand gestellt und mit dem Kopf an die Wand geschlagen. Als die Nazis weg waren, wollte die Familie einen Arzt zu Hilfe holen, aber niemand wollte kommen. Dann haben sie einen Ambulanzwagen bestellt, der ist auch nicht gekommen. Dann ist der Vater mit seinen zwei Söhnen zu Fuß in ein Krankenhaus gegangen. Als sie Anzeige bei der Polizei erstatten wollten, wurden sie weggejagt. Ein paar Tage später, ich weiß nicht, wer uns das erzählt hat, stand im Ereignisprotokoll der Polizei: “Grenadierstraße, 1 Uhr nachts, Streit zwischen Vater und zwei Söhnen, Söhne waren betrunken, die Leute wurden verwarnt, dass so etwas nicht wieder passieren darf.“ Diese Nacht hat mein Leben verändert.

Manche haben gedacht, mein Vater ist Kommunist. Deshalb wurde mein Vater im April, kurze Zeit nach dem schrecklichen Ereignis mit der Familie Süßapfel, mitten in der Nacht, von den Nazis heimgesucht. Sie haben an die Haustür geschlagen. Frau Heinz, die Portiersfrau, hat das gehört. Sie hat gleich verstanden, was da passiert. Frau Heinz war Christin. Wir hatten eine sehr gute Beziehung zu ihr. Sie hatte immer Kuchen von meinem Vater geschenkt bekommen. Er wollte eine gute Beziehung, und er war ein sehr lieber Mensch. Frau Heinz ist ganz schnell von einer Hintertür vom Hof zur Backstube meines Vaters gelaufen und hat gerufen: “Herr Kempler, Herr Kempler, kommen Sie schnell!“ Dann hat sie meinen Vater in ihren Holzkeller geschoben und die Nazis reingelassen. Sie hat gesagt: “Ich weiß nicht, wo der Herr Kempler ist, seit heute Nachmittag habe ich ihn nicht mehr gesehen.“ Die Nazis sind in die Bäckerei gestürmt und haben geschrien: “Wo ist der Jude, wo ist der Kommunist!“ Sie haben alle Tische umgeworfen und die Maschinen und Möbel kaputt geschlagen. Frau Heinz hat daneben gestanden und so getan, als wüsste sie nicht, wo mein Vater ist. Dann sind die Nazis weggegangen, nachdem sie Frau Heinz zwei Ohrfeigen gegeben haben. Mein Vater ist in die ganze Nacht im Keller geblieben.

Meine Schwestern Fanny und Gusti waren durch die zionistische Jugendorganisation “Blau-Weiß“ politisch gebildet, und haben gleich verstanden, dass mein Vater schnell Deutschland verlassen musste, weil die Nazis nicht aufhören würden, ihn zu suchen.

Vergleiche diese mit einer anderen Geschichte

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