Teofila Silberring
Als Jüdin in Polen aufwachsen
Teofila wuchs in einer polnischsprachigen Familie in Krakau auf. Sie verlor ihre Mutter 1939, als die Nazis, die Polen besetzt hatten, Möbel aus ihrer Wohnung beschlagnahmten. Nach der Auflösung des Krakauer Ghettos wurde sie von ihrer Familie getrennt und arbeitete in der Schindler-Fabrik. Von dort wurde sie nach Auschwitz transportiert, wo sie unter Dr. Mengele eine Typhus-Injektion erhielt und schließlich auf einen Todesmarsch nach Ravensbrück gezwungen wurde. Als sie nach Krakau zurückkehrte, stellte sie fest, dass ihre gesamte Familie verstorben war, und ging im Alter von 20 Jahren wieder zur Schule. Sie heiratete schließlich, bekam Kinder und blieb in Krakau.
Vor dem Krieg war die Miodowa-Straße vor allem eine Straße der Intellektuellen, der bessergestellten säkularen Juden. Und in den Seitenstraßen lebten Juden in Mänteln. Es ist nicht so, dass die Juden mit Zöpfen und weißen Socken, also die Chassidim, nicht die Miodowa-Straße entlanggingen. Sie gingen dort entlang, weil es eine Hauptstraße war, aber sie wohnten nicht dort. Gegenüber von unserem Haus befand sich die Tempel-Synagoge, die jüngste der Synagogen in Kazimierz, eine Reformsynagoge. Der Rabbiner dort war Ozjasz Thon (1870-1936), ein bedeutender Zionist und Abgeordneter des polnischen Parlaments. Vor dem Krieg war es eine Reformsynagoge, für wohlhabendere Leute, die mit Autos und Kutschen kamen. Ein orthodoxer Jude wäre dort nicht hineingegangen. Meine Eltern gingen an jedem Feiertag in den Tempel, ganz sicher. Und manchmal, wenn Vater mit Mutter an einem Samstag dort war, nahmen sie mich mit. Tempel war wunderschön. Die Männer waren unten und die Frauen oben, und ich ging immer zu Mama die Treppe hinauf. Da war eine Absperrung, und man schaute runter, was die Männer machten, wie sie beteten. Das hat mich alles begeistert. Ich bin gerne hingegangen, das weiß ich auch noch.
Samstags hat das Dienstmädchen alles gemacht, Juden durften nicht einmal das Licht anmachen, anscheinend. Sie konnte es, weil sie keine Jüdin war. Ich wusste, dass man samstags nicht Auto fahren durfte, dass wir bestimmte Dinge nicht tun durften, aber die Kinder haben alles gemacht, weil die Kinder assimilierter waren. Und außerdem ging Vater manchmal sogar samstags zur Arbeit. Vater war also nicht traditionell religiös. Aber er hat die Feiertage beibehalten; alle Feiertage wurden gefeiert.
Mein Lieblingsfest war Kuczki (Sukkot), das Fest der Schutzhütten. Denn dann gab es diese Hütten in unserem Hof, und wir Kinder, nicht nur ich, sondern das ganze Haus, bastelten bunte Papierketten und wetteiferten darum, wer die schönste war. Am ersten oder zweiten Tag hat Vater dort gegessen. Und danach war es ein so genannter 'freier' Feiertag, also hat er dort nicht gegessen. Aber die Hütte blieb bis zum Ende des Festes auf, also acht oder sieben Tage, ich weiß es nicht mehr. Auf jeden Fall mochte ich diesen Feiertag sehr, denn ich habe Dinge vorbereitet, Dinge getan, war sehr wichtig. Wenn meine Kette besser wurde als die meiner Freunde von nebenan, war ich sehr stolz. Und Vater war auch stolz auf mich und hat allen gezeigt, was ich gemacht habe. Das war mein schönstes Fest.
Purim mochte ich auch, weil man Geschenke bekam. Man bekam Geld. Wir haben uns immer verkleidet, das weiß ich noch. Purim war also auch ein lustiges Fest. Dann erinnere ich mich an das Pessachfest. Wir haben das eingepackt, was man “Chummes“ nannte, das heißt Brotkrümel. Denn an Pessach darf man kein Brot essen, nur Matze. Und in Kazimierz gab es eine Bäckerei. Wir gingen dorthin, da gab es dieses große hölzerne Paddel, und man warf die “Chummes“ darauf, um sie zu verbrennen. Ich bin immer mitgegangen, weil ich gerne hingegangen bin. Was das für eine Tradition war, worauf sie beruhte, weiß ich nicht. Und es gab Seder, dieses Abendessen, ich erinnere mich; es gab auf jeden Fall Matzen. Das wurde traditionell gefeiert, und danach ging Vater in ein Kaffeehaus. Es gab dieses Kaffeehaus, in dem sich Maler und Gelehrte wie Vater zu treffen pflegten. Herr Koziol, ein Krakauer Journalist, erzählte mir später, dass dieses Kaffeehaus in der Dietla-Straße lag und "Pod szmatka" hießt, was “Unter dem Tuch” bedeutet.
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Juden in Mänteln
Mit Juden in Mänteln sind - häufig stereotypisierend - chassidische Männer in schwarzen (Gebets-)Mänteln gemeint.
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Chassidismus
Chassidismus ist eine religiös-mystische Bewegung, die Mitte des 18. Jahrhunderts in der Ukraine entstand und sich zunächst bis nach Polen und Rumänien ausbreitete. Kennzeichnend ist der hohe Standard der Einhaltung religiöser Regeln, der moralische Anspruch sowie eine besondere G'ttesnähe.
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Synagoge
Die Synagoge ist das jüdische Versammlungs- und Gotteshaus für Gebet, Schriftstudium und Unterweisung, der Begriff "Synagoge" stammt vom griechischen Wort für "Zusammenkunft" und ist eine Übersetzung des hebräischen "Beth Knesset" (Haus der Versammlung). Oft bezeichnen Juden die Synagoge auch als Beth Tefila (Haus des Gebets) oder Beth Midrasch (Haus des Lernens).
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Kazimierz
Kazimierz ist ein Stadtteil südlich der Altstadt in Krakau zwischen dem Fluss Wisła und der Dietla-Straße (wo einst ein Nebenfluss der Wisła floss). Kazimierz war über 500 Jahre lang das Zentrum des jüdischen Lebens in Krakau, bevor es im Zweiten Weltkrieg systematisch zerstört wurde.
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Reformsynagoge
Reformsynagoge bezeichnet eine Synagoge des Reformjudentums.
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Rabbiner*in
Das Wort “Rabbiner“ (hebräisch: Raw) stammt aus dem Aramäischen und bedeutete ursprünglich “Fürst“. Der Rabbiner/ die Rabbinerin ist innerhalb der jüdischen Gemeinschaft vor allem wegen seiner Gelehrsamkeit und seiner frommen Lebensweise eine moralische Autorität. Die Aufgabe des Rabbiners besteht in der Erläuterung des g’ttlichen Gesetzes und der Traditionen, in der korrekten Anwendung und Achtung der Gebote, im Lehren und in der seelsorgerlichen Tätigkeit.
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Tempel
Tempel kann gleichbedeutend mit Synagoge verwendet werden.
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Assimilation
Der Prozess, bei dem Einzelpersonen oder Gruppen mit unterschiedlicher ethnischer Herkunft in die vorherrschende Kultur einer Gesellschaft aufgenommen werden oder sich eingliedern, wird Assimilation genannt. Der Prozess der Assimilierung beinhaltet die Übernahme der Merkmale der dominanten Kultur in einem solchen Ausmaß, dass die sich assimilierende Gruppe sozial nicht mehr von anderen Mitgliedern der Gesellschaft unterschieden werden kann.
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Sukkot
Sukkot, auch Laubhüttenfest genannt, ist eines der drei jüdischen Pilger- oder Wallfahrtsfeste (Pessach, Schawuot, Sukkot). Es wird im Herbst sieben Tage lang gefeiert – vom 15. bis 21./22. Tischri (September/Oktober). Der Name stammt von dem Brauch, in Erinnerung an die Wüstenwanderung aus Ästen, Blättern und Stoffplanen eine Laubhütte (Sukka) unter freiem Himmel zu bauen – im Garten, auf dem Hof oder dem Balkon. Hier werden die Mahlzeiten abgehalten, es wird gefeiert und religiöse Texte werden gelernt. Falls das Klima es zulässt, kann dort auch übernachtet werden. Das Bauen der Laubhütte soll daran erinnern, dass sich der Mensch in der Welt wenig auf Materielles verlassen kann.
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Purim
Purim, hebräisch für "Los", ist ein fröhliches jüdisches Fest zum Gedenken an das Überleben der Juden, die im 5. Jahrhundert v. Chr. von ihren persischen Herrschern zum Tode verurteilt wurden. Purim wird am 14. Adar (Februar/März) gefeiert. Nach dem Buch Esther versuchte Haman, der höchste Regierungsbeamte des persischen Königs, alle Juden im Perserreich an einem Tag auszurotten. Königin Esther führte jedoch durch Fasten und Gebet die Rettung herbei. In der Synagoge wird aus diesem Anlass ein Gottesdienst gefeiert, bei dem es meist sehr fröhlich zugeht. Dabei wird auch die Festrolle des biblischen Buches Esther vorgelesen. Immer, wenn der Name Haman fällt, machen die anwesenden Kinder mit Tuten, Rasseln und Ratschen so viel Lärm wie möglich.
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Pessach
Pessach, auch: Pascha- oder Passa-Fest genannt, gehört zu den Hochfesten im jüdischen Kalender. Pessach gehört zu den höchsten Festen im Judentum. Es erinnert an den Auszug aus Ägypten, die Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei, mit der sie als eigenes, von Gott erwähltes Volk in die Geschichte eintraten. Die Nacherzählung (Haggada) verbindet jede neue Generation mit ihrer Ursprungsgeschichte. Pessach wird in der Woche vom 15. bis 22. Nissan (März/April) als Familienfest mit verschiedenen Bräuchen gefeiert, darunter dem Seder in der Nacht des ersten Tages, bei dem die Haggada gelesen wird und dem einwöchigen Verzehr von Matze.
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Matze
Matze, Plural “Matzot“, ist ein ungesäuertes Brot, das eine Woche lang während Pessach gegessen wird. Matzot werden aus Wasser und einer der fünf Getreidearten Weizen, Roggen, Gerste, Hafer oder Dinkel ohne Treibmittel hergestellt. Die Matze erinnert daran, dass die Israeliten bei ihrem Auszug aus Ägypten keine Zeit hatten, den Teig säuern zu lassen, weil sie aus dem Land vertrieben wurden.
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Seder
Seder ist das hebräische Wort für “Ordnung“, das als Kurzbezeichnung für den Sederabend verwendet wird. Zum Auftakt des Pessachfestes wird im Kreis der Familie oder Gemeinde des Auszugs aus Ägypten gedacht. Dies geschieht in einem langen, streng geregelten Ablauf – daher die Bezeichnung “Seder“. Es werden Texte aus der Haggada gelesen und Lieder gesungen. Der Tisch ist mit symbolischen Speisen gedeckt: Matze als Zeichen der Eile, in der die Juden aus Ägypten geflohen sind, sodass sie nicht einmal den Brotteig säuern konnten; Salzwasser als Symbol des Weinens über die Zerstörung des Tempels; und der traditionelle Sederteller, auf dem sich unter anderem Bitterkraut als Zeichen der Knechtschaft in Ägypten und ein gesottenes Ei als Symbol für die Gebrechlichkeit menschlicher Geschicke, aber auch der Fruchtbarkeit, befinden. Stets steht auch ein Stuhl und ein Becher Wein für den Propheten Elijahu bereit, dessen Erscheinen man an diesem Abend erwartet.
Teofila Silberring
Damit die Erinnerung nicht stirbt
Teofila Silberring erzählt uns in diesem Film von ihrer Kindheit in Krakau, ihrer Schulzeit im jüdischen Viertel Kazimierz - und wie das behütete Leben im Kreise ihrer Familie mit dem Einmarsch der Deutschen im Jahr 1939 ein jähes Ende fand. Deportiert ins Krakauer jüdische Ghetto, arbeitete sie in der Fabrik von Oskar Schindler, bis man sie nach Auschwitz schickte. Teofila Silberring teilt mit uns die tragischsten Momente ihres Lebens, aber schildert auch den Neuanfang nach 1945.
Arbeitsaufträge
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Beschreibe in deinen eigenen Worten, wie das Judentum Teofilas Leben beeinflusst hat, als sie aufwuchs.
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Finde Gründe dafür, warum Kuczki (Sukkot) Teofilas Lieblingsfest war. Vergleiche es mit deinem eigenen Lieblingsfest. Inwiefern sind sie ähnlich und inwiefern sind sie unterschiedlich?
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Erkläre, was das Besondere an Samstagen in Teofilas Haus war. Verfasse einen Tagebucheintrag, in dem du beschreibst, wie sich diese Einschränkungen auf deinen Tag auswirken würden.
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Recherchiere, welche anderen jüdischen Feste es gibt und was an ihnen gefeiert wird. Benenne Gemeinsamkeiten zu Festen, die du kennst.