Menachem Mayer
Die Reichspogromnacht am 9. auf den 10. November 1938
Am Morgen des 10. November 1938 fuhr Fred mit der Bahn, wie immer seit Mai 1937, zur Schule nach Heidelberg – aber als er dort ankam, sagten die Lehrer, er solle sofort nach Hause gehen. Als er vom Bahnhof in Hoffenheim nach Hause kam, sah er unsere Mutter mit einem mit Kleidern und Bettzeug beladenen Karren, den sie vor sich herschob. Sie erzählte ihm, dass die Synagoge und unsere angrenzende Wohnung gerade zerstört werden. Möbel und Haushaltsgegenstände lagen auf der Straße. Unsere Mutter war auf dem Weg zum Haus unserer Verwandten, der Familie Heumann. Fred rannte zum Platz, auf dem unser Haus stand und die Synagoge. Viele Leute waren dort. Einige Nazis aus dem Ort, darunter auch jene, die mit meinem Vater zur Schule gegangen waren, seine Waffenbrüder während des Ersten Weltkriegs, standen oben auf dem Dach, dass sie mit großem Enthusiasmus abdeckten. Es war für unseren Vater schmerzlich anzusehen, mit welchem Vergnügen sie das taten. Nach einigen Stunden war von der 1750 erbauten Synagoge nur noch ein Haufen Schutt übrig. Zehn Jahre später wurde der örtliche SA-Truppführer zusammen mit dem örtlichen Parteiführer und mit dem Obersturmbannführer, der die Zerstörung der Synagoge angeordnet hatte, vor Gericht gestellt. Ich stieß auf die Prozessunterlagen in Yad Vashem:
Am Donnerstag, den 10. November 1938 um 7:00 Uhr wies Eugen Laule, Bürgermeister von Waibstadt und SA-Obersturmbannführer, den örtlichen SA-Truppführer Lehrer Emil Hopp und fünf oder sechs weitere SA-Männer aus dem Ort an, sich in Uniform zur Synagoge zu begeben, wo unser Vater mit ihnen zusammentraf. Die Nazis befahlen ihm, unsere Wohnung zu verlassen, da sie jetzt die Synagoge zerstören würden. Sie konnte nicht niedergebrannt werden, da die Gefahr bestand, dass das Feuer auf benachbarte Häuser übergreifen würde. Die Nazis warfen Möbelstücke aus dem Fenster im ersten Stock. Ein SA-Mann wollte uns beim Heraustragen unsere persönlichen Habe helfen, wurde aber von seinem Vorgesetzten daran gehindert, der sagte: Kerl, dir trete ich in den Arsch, wenn du den Juden hilfst auszuziehen! Und zu einem anderen: „Jetzt können Sie zeigen, ob Sie nationalsozialistisch sind oder nicht“. Dann drangen die Uniformträger, unterstützt von Dorfbewohnern, in die Synagoge ein und begannen, sie systematisch zu zerstören. Der große Kronleuchter krachte zu Boden, Thorarollen und heilige Bücher wurden zerrissen, und das Dach des Gebäudes wurde zerstört. Nachdem alles kurz und klein geschlagen war, wurden die Überreste auf einen Wagen geladen und auf ein offenes Feld Richtung Sinsheim gebracht, wo sie verbrannt wurden.
Meine Familie und andere Juden des Ortes standen weinend vor ihrer Synagoge, die Kinder der Familien waren aus dem Bett gerissen worden und standen im Schlafanzug auf der Straße. Die Frage einer verärgerten Nachbarin an die Übeltäter, ob sie sich nicht schämen, wurde mit der Drohung einer Verhaftung beantwortet. Am Ende dieses Tages voller Ausschreitungen wurde Vater abgeführt und einen Monat lang im KZ Dachau gefangen gehalten. Bei der Ankunft wurde den Häftlingen der Kopf rasiert, und sie wurden in Gefängniskleidung gesteckt. Um die 300 Männer wurden in Baracken gezwängt, die für 40 Menschen vorgesehen waren. Gequält und gedemütigt, waren sie den Launen der SS ausgeliefert. Vor nicht allzu langer Zeit haben wir in Yad Vashem den Bericht von Vaters Einlieferung ins KZ Dachau entdeckt. Er wurde aufgrund von Konzessionen gegenüber deutschen Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg früher als andere entlassen.