Matilda Albuhaire
Das jüdische Viertel in Burgas
Matilda Albuhaire wurde 1916 in Plovdiv geboren, wuchs aber später in Burgas auf. Nach Abschluss ihrer Lehrerausbildung im Jahr 1937 begann sie als Hebräischlehrerin an der jüdischen Grundschule in Burgas zu arbeiten. Die Schule, in der sie arbeitete, wurde 1941 geschlossen, und 1943 erhielt ihre Familie die Nachricht, dass sie in Polen interniert werden sollte - doch im letzten Moment wurde der Befehl rückgängig gemacht, und die Jüd*innen von Burgas blieben für den Rest des Zweiten Weltkrieges dort, wo sie waren. Matilda schloss ihr Studium an der Universität in Sofia mit einem Doktortitel ab.
In Burgas, Bulgarien, gab es ein Viertel, in dem nur Juden lebten. Alle Juden kannten sich untereinander. Die Gemeinde führte soziale Aktivitäten durch und unterhielt eine Suppenküche für die armen Schüler. Ich erinnere mich, dass jede Familie an einem bestimmten Tag Essen für die Kinder abgab.
In Burgas gab es sowohl einen jüdischen Kindergarten als auch eine Schule. Die Juden waren hauptsächlich im Handel tätig. Es gab auch einige Molkereien, und die armen Juden waren Schiffer und Verkäufer von gebackenen Samen. Es gab auch einen Schochet und einen Rabbiner.
Ich ging auf das Mädchengymnasium - meine Freundinnen waren sowohl jüdische als auch bulgarische Mädchen. Bei vielen Gelegenheiten kamen wir Mädchen zu Hause zusammen, um 'jours', also Kartenspiele, zu spielen. Die großen Jours fanden immer an Jom Kippur statt, weil unsere Eltern nicht zu Hause waren - sie mussten den ganzen Tag in der Synagoge sein.
Am Vorabend des Schabbats gingen mein Vater und mein Großvater in die Synagoge, dann kehrten sie nach Hause zurück und wir zündeten die Kerzen an. Ich erinnere mich, dass meine Mutter anfing, donnerstags die Mahlzeiten zuzubereiten, um freitags und samstags nicht kochen zu müssen.
Damals gab es keine Matze zu kaufen, also haben wir Boleau gekauft. Boleau besteht nur aus Teig, Mehl und Wasser. Kein Aufgehen, kein Salz - es ist ein salzfreies Brot. Die jüdische Gemeinde bestellte es bei einer Bäckerei und wir kauften es von dort.
Ich erinnere mich, wie ich mit Großvater zum Slichot-Gottesdienst ging - vor Rosch ha-Schana, wo man um Vergebung bittet. Ich bin auch mit meinem Vater in die Synagoge gegangen. Da muss man um 4 Uhr morgens hingehen, wenn es noch dunkel ist. Dort gab es einen Schamasch, der Kaffee auf einem Kohlenbecken zu kochen pflegte. Er kochte ihn draußen nach dem Gottesdienst.
Von allen Feiertagen mochte ich Fruttas, also Tu Bischwat, am liebsten, weil wir viel Obst aßen und weil sie alle Früchte auf den Tisch stellten. Jeder hat das gegessen, was er am liebsten mochte, und es wurde ein Gebet gesprochen. Wir haben kleine Tüten mit Obst gebastelt, die wir am Feiertag selbst ausgetauscht haben.
Ich hatte keine Bat Mitzwa, aber ich erinnere mich an die Brit Mila bei meinem jüngeren Bruder und an die Bar Mitzwa bei meinem älteren Bruder. Es gab eine große Feier zu Hause, aber ich weiß nicht mehr, ob es eine in der Synagoge gab. Dann schenkte ihm mein Vater oder Großvater eine Taschenuhr (damals gab es noch keine Armbanduhren), die er sein ganzes Leben lang trug.
-
Bulgarien
Bulgarien ist ein Balkanstaat am Schwarzen Meer, der zwischen Rumänien (im Norden), Griechenland und der Türkei (im Süden) sowie Serbien und Nordmazedonien (im Westen) liegt.
-
Schochet
Der Schochet, Plural “Schochetim“, ist ein Schächter, also ein ritueller Schlachter im Judentum.
-
Rabbiner*in
Das Wort “Rabbiner“ (hebräisch: Raw) stammt aus dem Aramäischen und bedeutete ursprünglich “Fürst“. Der Rabbiner/ die Rabbinerin ist innerhalb der jüdischen Gemeinschaft vor allem wegen seiner Gelehrsamkeit und seiner frommen Lebensweise eine moralische Autorität. Die Aufgabe des Rabbiners besteht in der Erläuterung des g’ttlichen Gesetzes und der Traditionen, in der korrekten Anwendung und Achtung der Gebote, im Lehren und in der seelsorgerlichen Tätigkeit.
-
Jom Kippur
Jom Kippur ist der jüdische Versöhnungstag und gleichzeitig der höchste jährliche Festtag im Judentum. Er verlangt ein 25-stündiges Fasten und Gebet. Man versucht vor Jom Kippur, sich mit Menschen, mit denen man im Lauf des Jahres Probleme hatte, zu versöhnen, klärende Gespräche zu führen und materielle Schäden zu begleichen. Im jüdischen Kalender beginnt der Versöhnungstag bei Sonnenuntergang vor dem 10. Tischri (September/ Oktober) und dauert bis zum nächsten Sonnenuntergang.
-
Synagoge
Die Synagoge ist das jüdische Versammlungs- und Gotteshaus für Gebet, Schriftstudium und Unterweisung, der Begriff "Synagoge" stammt vom griechischen Wort für "Zusammenkunft" und ist eine Übersetzung des hebräischen "Beth Knesset" (Haus der Versammlung). Oft bezeichnen Juden die Synagoge auch als Beth Tefila (Haus des Gebets) oder Beth Midrasch (Haus des Lernens).
-
Schabbat
Schabbat, jiddisch “Schabbes“, ist der siebte Wochentag, der durch die Tora vorgeschriebene Tag, an dem keinerlei Arbeit verrichtet werden soll, er soll dem Gottesfürchtigen dazu dienen, Zeit mit Gott zu verbringen. Der Schabbat beginnt am Freitagabend und endet am Samstagabend.
-
Matze
Matze, Plural “Matzot“, ist ein ungesäuertes Brot, das eine Woche lang während Pessach gegessen wird. Matzot werden aus Wasser und einer der fünf Getreidearten Weizen, Roggen, Gerste, Hafer oder Dinkel ohne Treibmittel hergestellt. Die Matze erinnert daran, dass die Israeliten bei ihrem Auszug aus Ägypten keine Zeit hatten, den Teig säuern zu lassen, weil sie aus dem Land vertrieben wurden.
-
Slichot
Slichot, von hebräisch “Slicha“ = “Entschuldigung“, “Vergebung“. Am Slichot-Gottesdienst vor dem jüdischen Neujahrsfest bittet man in der Synagoge um Vergebung.
-
Rosch ha-Schana
Rosch ha-Schana ist das jüdische Neujahrsfest, einer der heiligsten Tage des Judentums. Das Fest beginnt am ersten Tag des siebten Monats des hebräischen Kalenders, der in den September oder Oktober fällt und bedeutet "Kopf des Jahres" oder "Erster des Jahres". Rosch Haschana erinnert an die Erschaffung der Welt und markiert den Beginn der Tage der Ehrfurcht, einer 10-tägigen Periode der Selbstbesinnung und Reue, die im Jom Kippur-Fest gipfelt, das auch als Versöhnungstag bekannt ist. Rosch Haschana und Jom Kippur sind die beiden "Hohen Heiligen Tage" der jüdischen Religion.
-
Schamasch
An den acht Chanukka-Abenden zündet man jeweils ein zusätzliches Licht an, bis zum Schluss acht Kerzen brennen. Aber es sind am Ende gar nicht acht Kerzen, sondern neun. Denn man zündet immer eine zusätzlich mit an. Sie wird Schamasch, hebräisch für “Diener“, genannt. Man zündet sie immer vor den eigentlichen Chanukkakerzen an.
-
Bat Mitzwa
Bat Mitzwa, hebräisch für “Tochter der Pflicht“ oder “Tochter des Gebots“, bezeichnet die Aufnahme in die Gemeinschaft der Personen, die die religiösen Gebote befolgen, für Mädchen im Alter von zwölf Jahren. Damit ist einerseits der Status der Religionsmündigkeit wie auch der Tag, an dem diese erworben wird und die damit verbundene Feier gemeint.
-
Brit Mila
Die männliche Beschneidung nach jüdischem Brauch am 8. Tag nach der Geburt des Kindes, durchgeführt durch einen ausgebildeten Beschneider, den Mohel, wird als Brit Mila bezeichnet.
-
Bar Mitzwa
Bar Mitzwa, hebräisch für “Sohn der Pflicht“ oder “Sohn des Gebots“, bezeichnet die Aufnahme in die Gemeinschaft der Personen, die die religiösen Gebote befolgen, für Jungen im Alter von 13 Jahren. Damit ist einerseits der Status der Religionsmündigkeit wie auch der Tag, an dem diese erworben wird und die damit verbundene Feier gemeint.
Matilda Albuhaire
Eine sephardische Familiengeschichte
Matilda Albuhaire wurde 1916 in einer sefardischen Familie in Bourgas am Schwarzen Meer geboren. Sie zeigte uns alte Familienfotos in Istanbul und anderen Städten im Balkan und teilte so mit uns die Geschichte ihrer Familie während des späten Osmanischen Reiches und ihre Jugend im Bulgarien der Vorkriegszeit. Als der Zweite Weltkrieg begann, sollte Matildas Familie in das von den Nationalsozialisten besetzte Polen deportiert werden. Doch die Deportationen wurden gestoppt und die jüdische Gemeinde Bulgariens gerettet. Matilda blieb auch nach dem Krieg im kommunistischen Bulgarien. Als das jüdische Leben nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wieder erwachte, gründete Matilda einen Hebräischen Sprachklub in Sofia.
Arbeitsaufträge
-
Beschreibe das soziale Leben der Juden in Burgas.
-
Matilda beschreibt Bräuche und Rituale um den Schabbat. Zeige anhand von Beispielen auf, dass die Familie diesen im Judentum besonderen Wochentag vorbereitet und gefeiert hat.
-
Sieh dir die Fotos von Matilda an. Welche Aussage kannst du über sie und ihre Familie treffen?
-
Beschreibe die Bedeutung von Essen an jüdischen Feiertagen und finde Beispiele. Vergleiche mit Fest- oder Feiertagen, die du kennst und feierst und beschreibe die besonderen Essgewohnheiten.
-
Juden lebten in Burgas in einem eigenen Viertel. Kennst du aus deinem Geschichtsunterricht Gründe für die Entstehung von jüdischen Vierteln?